Grundlage: Neokoloniale Arbeits- und Besitzverhältnisse

Im Zuge des europäischen Kolonialismus seit Ende des 15. Jahrhunderts wurden die bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensweisen in den besetzen Gebieten oftmals zerstört und durch solche ersetzt, die den europäischen Kolonisator*innen bzw. Wirtschaftsunternehmen nützten.[1] Die Jahrhunderte andauernde Ausbeutung des Südens sowie die zunehmende Privatisierung von vorherigen Gemeingütern sowie die Zerstörung kooperativer und kollektiver Strukturen auch in Europa ermöglichte den wirtschaftlichen, militärischen und politischen Aufstieg europäischer Staaten, die Industrialisierung in Europa und die globale Etablierung des europäischen Kapitalismus. Die dadurch entstandenen sozio-ökonomischen und politischen Strukturen sind bis heute die Basis für die weltweite Vormachtstellung des Globalen Nordens, aber auch für die Macht jeweiliger Eliten im Globalen Süden.

Nach dem anfänglichen Raub von Ressourcen und der Verschleppung und Versklavung von Menschen aus dem Globalen Süden wurden nach und nach die Ökonomien und Gesellschaften in den Amerikas, Afrika, Asien und Australien nach den Bedürfnissen Europas ausgerichtet. Beispielsweise wurden Monokulturen eingeführt, so dass seither wenige Rohstoffe oder Agrarprodukte das gesamte Wirtschaftswesen dominierten. Das bedeutet, dass viele Länder langfristig vom An-/Abbau eines Produkts, das für die Bewohner*innen keinen direkten Nutzen hatte und hat, sowie von dessen Nachfrage und Abnahme durch Konzerne und Konsument*innen aus dem Norden abhängig wurden [Link zu „Kolonialwarenläden“].

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Wenn man Sigmar Gabriel auf Kolonialismus anspricht – Ein Erfahrungsbericht

“Wird Europa sich in einer G2-Welt zwischen China und den USA behaupten können?” – so die zentrale Frage des Vortrags von Sigmar Gabriel. Mit einem 45-minütigen Input zu “Europa in einer unbequemen Welt” tourt der ehemalige Außenminister seit einiger Zeit durch Deutschland. Sicherlich sagt er nicht immer dasselbe. Doch die Schlüsselelemente und –wendungen des Vortrags sitzen einwandfrei. So auch am 12. Februar im Hörsaal 1 der Universität Kassel. Gabriel spricht frei, selbstsicher, irgendwie sanft und immer wieder selbstironisch vor dem voll besetzten Saal. Gibt sich als Familienvater und sorgend um seine Figur, ist bemüht so viel Identifikationsfläche wie möglich und so viel Angriffsfläche wie nötig zu bieten. Er gibt sich ein bisschen als den Weisen, der nun kommt, um noch mal seine Erfahrungen zu der jüngeren Generation sprechen zu lassen. So weit so erwartbar. So weit so unaufgeregt.

Nun aber ist da die Bedrohung, von Freiheit und der liberalen Weltordnung. Es sei unbequemer geworden. China bedroht, Russland bedroht, Trump bedroht, Datenfirmen bedrohen. Deutschland sei zwar „Industrialisierer der Welt“ gewesen, doch die Wertschöpfung läge nun mehr und mehr bei großen Datenfirmen. Trump begreife die Welt als „Arena“, in welcher der Stärkere gewinnt. Europa hingegen sei mit sich selbst beschäftigt. Es werde international als „wirtschaftlich reich aber politisch irrelevant“ begriffen. Wenn wir uns angesichts dieser Bedrohungen nun ausschließlich von Werten und Moral leiten ließen, so Gabriel, „werden wir an Moral ersticken“. Stattdessen müssen wir auch über Interessen reden und „schneller werden“ und in „einer Welt von Fleischfressern mindestens zu Flexitariern werden“, sprich: Wir müssen uns (mehr) bewaffnen. Gabriel schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass Entdecker und Eroberer die im 15. Jahrhundert Europa verlassen haben, 600 Jahre Dominanz europäischer Ideen in der Welt einläuteten. Auch heute ständen wir an so einem Scheideweg und es stelle sich die Frage, wie in 600 Jahren über unsere Zeit gesprochen wird. Wird es der Moment gewesen sein, in dem Europa bedeutungslos wurde? Oder der Moment in dem wir uns zusammenrauften und Stärke und Verantwortung entwickelten?

Und schon ist er da, nicht in Griechenland und nicht in Zimbabwe, nein, er ist im wahrsten Sinne des Wortes in der Mitte Deutschlands: Der Sprech von der Krise. Wohlgeeignet autoritäre Entscheidungen durchzusetzen und werteorientierte Politik in die Ketten der Sachzwänge zu legen. Sehr gefährlich für Demokratie im Allgemeinen und für Klassenkampf im speziellen. Lebenswerte, empathie-orientierte, solidarische Alternativen verschwinden dabei vom Horizont und Trumps „Arena“ und europäische Interessen sind das, was zurückbleibt und das Denken prägt. In dieser Welt kann natürlich nicht auf alles Rücksicht genommen werden. Das wird auch bei der anschließenden Fragerunde deutlich. Ich stelle zwei Fragen. Meine erste Frage argumentiert, dass Freiheit doch dort aufhören müsse, wo diejenige anderer beginnt. Dies müsse auch bedeuten, Menschen im globalen Süden die Freiheit zu lassen, ein gutes Leben zu führen und nicht die Kosten unsozialer und unökologischer europäischer Konsum- und Produktionsweise zu tragen. Weil dies impliziere Privilegien in Europa abzubauen, frage ich ihn nach seinen Vorschlägen, wie das angegangen werden könne? Zweitens frage ich Gabriel danach, wie Europa, mit einer Geschichte 500jähriger kolonialer Ausbeutung als legitimer Akteur begriffen werden könne, für Demokratie, Frieden oder Wohlstand weltweit zu sorgen? Wie bei dem Szenario des „stärkeren Europas“, das Gabriel anstrebt, der kolonialen Geschichte Rechnung getragen werden
könne? Gabriel wirkt angegriffen. Das hält ihn aber nicht davon ab, meine erste Frage komplett zu ignorieren, noch führt es ihn dazu, auf meine zweite Frage klar einzugehen. Weder die imperiale Lebensweise noch historische Schuld aufgrund des europäischen Kolonialismus scheinen im Vokabular des Sozialdemokraten vorhanden zu sein. Er beginnt zurückzufragen, ob ich denn nicht wisse, dass Aufklärung, Liberalismus und Menschenrechte alles westliche Ideen seien? Ob ich das alles schlecht fände und denke, weil es Kolonialismus gegeben habe, sei das alles verkehrt? Das könne doch nicht mein Ernst sein? Wow. Ich bin perplex. Ganz unabhängig davon, was meine Einstellung zu Aufklärung und Liberalismus sein mag, wie ignorant er über die Fragen hinweggeht, schockiert mich. Wie kann es sein, dass ein deutscher Spitzenpolitiker der SPD, wenn er auf Kolonialismus angesprochen wird, nicht wenigstens anerkennt, dass dies ein relevantes Thema ist? Wie kann es sein, dass Herr Gabriel beginnt über „westliche Werte“ zu sprechen statt von der Diskussion um Reparationszahlungen und um die Anerkennung von Völkermorden oder zumindest von Konflikt, Schwierigkeit und dem Bedarf weiterer Auseinandersetzung?

So wenig Gabriel auf die Frage eingeht, so aussagekräftig ist doch seine Antwort: Für die Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte gibt es keinen Platz und die globale Ungerechtigkeit, die durch unsere Lebensweise verursacht wird, schert das SPD- Urgestein nicht.

Ich bleibe die einzige Frau, die bei dieser Veranstaltung ins Mikro spricht. Beim Rausgehen reicht mir Gabriel noch die Hand und sagt „Jetzt gucken Sie nicht so böse.“ Ein Lächeln hätte dem Mann wohl besser gefallen, aber komischerweise ist mir nicht danach.

Autorin: Paula H.

Veranstaltungshinweis

Fokus Kongo: Zwischen Ausplünderung, Überleben und sozialen Kämpfen für ein besseres Leben

Veranstaltungstour im Vorfeld mit Victor Nzuzi (Bauer, Mitglied von Via
Campesina und Globalisierungskritiker aus der Demokratischen Republik Kongo)

Göttingen: 01. Oktober, 18:00 Uhr:
Our House OM10, ObereMasch-Straße 10,
37073 Göttingen

Kassel: 02. Oktober, 19:00 Uhr:
KollektivCafé Kurbad, Sternstr 20,
34123Kassel

Meuchefitz: 03. Oktober, 19:30 Uhr:
Gasthof Meuchefitz, Meuchefitz19,
29482 Küsten

Bremen: 04. Oktober, 19:00 Uhr:
DGB-Haus, Bahnhofsplatz 22-28, 28195 Bremen

Leipzig: 06.-08. Oktober:
Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch“

Dresden: 09. Oktober:
vgl. www.afrique-europe-interact.net

Spätestens seit Geflüchtete und Migrant_innen im Sommer 2015 das europäische Grenzregime vorübergehend aus den Angeln gehoben haben, ist seitens der EU-Regierungen viel von „Fluchtursachen“ die Rede. Diese müssten durch milliardenschwere Entwicklungsprogramme „bekämpft“ werden, nur so sei verhinderbar, dass weitere Menschen Richtung Europa aufbrechen würden. Das klingt plausibel, allerdings werden die Ursachen für die desaströsen Verhältnisse im globalen Süden meist ausgeblendet, und auch bleibt die Frage unbeantwortet, welche Art von Entwicklung überhaupt gefördert werden soll.

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Schwarze Menschen als Arbeiter*innen im „chinesischen Dorf“ im Bergpark Kassel

Exotismus hat viele Gesichter. Im ausgehenden 18. Jahrhundert galt es als chic, Weltläufigkeit in landschaftsgärtnerischer Form zu demonstrieren. Im Kasseler Bergpark wurde hierzu auf Initiative von Landgraf Friedrich II. ab 1781 das chinesische Dorf „Mulang“ eingerichtet, um mit Mühle, Schafstall und Milchhäuschen idyllisches Landleben zu inszenieren. Allerdings gelang es nicht, chinesisches Personal anzustellen. Stattdessen arbeiteten dort etwa 50 Schwarze Menschen. Einige von ihnen wurden vermutlich – so die Historikerin Petra Werner – von nordhessischen Offizieren aus den amerikanischen Befreiungskriegen nach Deutschland verschleppt; andere scheinen aus Kamerun nach Kassel gelangt zu sein. Einige von ihnen starben früh durch Krankheiten oder Suizid. Über den Verbleib ihrer sterblichen Überreste – und über eine würdige Bestattung – ist kaum etwas bekannt; möglicherweise befinden sie sich in der Marburger Anatomischen Sammlung. Weiterlesen „Schwarze Menschen als Arbeiter*innen im „chinesischen Dorf“ im Bergpark Kassel“

Kolonialismus an den Ladentheken

Anders als heute, wo Lebens- und Genussmittel wie Kaffee, Kakao, Tabak oder verschiedene Gewürze in standardisierter Form im Supermarkt verkauft werden, wurden sie bis vor wenigen Jahrzehnten in Kolonialwarenläden – auch Kram- oder Gemischtwarenläden genannt – angeboten. Diese Läden waren häufig Familienbetriebe und nicht selten in Wohnhäuser integriert, wo ein Zimmer zum Verkaufs- und Lagerraum umfunktioniert wurde. Dies mag idyllisch erscheinen; aber die die Möglichkeit, Kaffee, Tee, Tabak usw. in Europa zum Verkauf anzubieten, war mit kolonialer Eroberung und Ausbeutungsverhältnissen verbunden.

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