Grundlage: neokolonial

Der Begriff des Neokolonialismus wurde nach der offiziellen Dekolonisation vom ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah geprägt.[1] In dieser Perspektive werden trotz formaler Souveränität das wirtschaftliche und politische System ehemals kolonisierter Staaten von den ehemaligen Kolonialmächten gesteuert. Unter diesen Bedingungen führen Auslandsinvestitionen nicht zu ‚Entwicklung‘, sondern zu Ausbeutung und vergrößern die Kluft zwischen armen und reichen Ländern. Neokolonial kontrollierte Staaten wurden auch als Werkzeuge in Stellvertreterkriegen der Supermächte missbraucht. Das besonders Perfide an neokolonialer Herrschaft liegt darin, dass sich der dominante Staat durch die formale Souveränität der dominierten Staaten auch jeder Verantwortung und Rechenschaft entledigt hat.

Der Begriff wird oft in politischen Auseinandersetzung verwendet, um die vermeintliche Kontrolle der Länder der ‚Dritten Welt‘ durch solche der ‚Ersten Welt‘ anzuprangern, vor allem die Kontrolle über Ressourcen, Wirtschaftspolitik und Absatzmärkte, aber auch Abhängigkeiten in anderen Bereichen wie Kultur und Medien.

Der Vorwurf des Neokolonialismus richtete sich im Bereich der Weltwirtschaft meist gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO), die vor allem von westlichen Staaten kontrolliert werden. Diese Institutionen setzen durch unterschiedliche Mechanismen ‚Freihandel‘ in der Weltwirtschaft durch, der in der Regel vor allem kapitalstarken und wettbewerbsfähigen Konzernen aus dem Norden ermöglicht, die Märkte des Südens zu erobern.

Noch deutlicher werden die Kontinuitäten zur kolonialen Ära, wenn wir uns die Militärinterventionen der vergangenen Jahrzehnte im Kosovo, in Afghanistan, im Irak und ihre politischen und wirtschaftlichen Implikationen ansehen. Das Personal der intervenierenden Streitkräfte erhielt z.T. Immunität gegenüber der einheimischen Justiz, „freie Marktwirtschaft“ wurde in den Verfassungen festgeschrieben und ausländische Unternehmer*innen begünstigt – alles ohne Mandat der Bevölkerung, d.h. undemokratisch. In zahlreichen anderen Ländern ist die Stationierung ausländischer Truppen in Militärstützpunkten auch heute noch übliche Praxis. Dies bezieht sich nicht nur auf die USA (mit 900 solcher Stützpunkte), sondern beispielsweise auch auf die Militärbasen Frankreichs in Afrika oder die Deutschlands in Afghanistan, Usbekistan oder dem Kosovo.

Auch Entwicklungszusammenarbeit wird oftmals als neokolonial kritisiert, weil sie geopolitische Interessen verfolge, außenwirtschaftlich motiviert sei, kreditnehmende Länder in eine Schuldenfalle führe sowie in die politischen Systeme und Haushaltsplanungen von so genannten Empfängerländern eingreife. Ein weiterer Bereich, dem der Vorwurf neokolonialer Politik gemacht wird, ist die Aneignung von landwirtschaftlichen Nutzflächen im großen Maßstab durch finanzstarke ausländische Investoren (land grabbing), die mittlerweile auch ehemalige Kolonien wie China, Saudi-Arabien Südkorea oder Indien umfassen. Oftmals werden dabei Kleinbäuer*innen von diesem Land vertrieben.

Daneben ist „Biopiraterie“ als Kolonialismus des 21. Jahrhunderts bezeichnet worden. Hier geht es um die Patentierung genetischer Ressourcen im Süden durch Unternehmen des Nordens, die sich auf diese Weise oft das traditionelle Wissen um Heilpflanzen indigener Gemeinschaften aneignen und damit Gewinne machen. Auch die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik kann als neokolonial bezeichnet werden: Kontrolle und Abwehr potenzieller Migrant*innen in die EU durch nord- und westafrikanische sowie süd- und osteuropäische Staaten, die im Rahmen von Abkommen dazu verpflichtet werden und im Gegenzug finanzielle und materielle Unterstützung erhalten.

Viele der als Neokolonialismus bezeichneten Phänomene sind oft nichts weiter als die „ganz normalen“ Auswüchse der aus einem globalisierten Kapitalismus und Staatensystem bestehenden Weltordnung. Die legitime marktwirtschaftliche und liberaldemokratische Normalität der einen ist der Neokolonialismus der anderen.

[1] Diese Ausführungen basieren auf Ziai, Aram, 2012: Neokoloniale Weltordnung? Brüche und Kontinuitäten seit der Dekolonisation. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 44/45 [http://www.bpb.de/apuz/146977/neokoloniale-weltordnung?p=all]