Forschung & Aktivitäten

Pressemitteilung Causa Eberle: Welterbe dekolonisieren & Eckpunktepapier

PRESSEMITTEILUNG: 

Welterbe dekolonisieren: Causa Eberle könnte progressive Veränderungen in der Kasseler Kulturpolitik ermöglichen

Die Causa Eberle hat die Kasseler Kulturpolitik jüngst aufgerüttelt. Sie schafft Raum für dringend nötige Reformen. Die Gruppe Kassel postkolonial begrüßt das sensible und entschlossene Handeln der Stadt Kassel und des Wissenschaftsministeriums und plädiert für eine Strategie, die weg vom Weltkolonialerbe, hin zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Rassismus weist: “Rassistisches Handeln darf keinen Platz in einer diversitätsbewussten Kulturpolitik haben! Durch die rasche Entlassung ist der Weg frei, um in der Kasseler Erinnerungskultur progressive Akzente zu setzen: Wir fordern eine kuratorische Praxis, die Schwarze Geschichte, koloniale Gewalt und antikolonialen Widerstand sichtbar macht.” heißt es in einem Pressestatement der Gruppe kassel postkolonial.

In diesem Zuge veröffentlicht kassel postkolonial ein Eckpunktepapier „10 Weichenstellungen für eine dekoloniale Erinnerungskultur”,“Wir rufen die Stadt Kassel und Hessen Kassel Heritage dazu auf, einen Wandel in der Erinnerungskultur konsequent zu gestalten”, so die Gruppe. Zentrale Forderungen formulieren Praxisvorschläge für Personalentscheidungen, kuratorische Praxis und dekoloniales Erinnern:

  • Personalentscheidung diversitätssensibel gestalten: Die nun vakante Stelle muss mit einer Persönlichkeit besetzt werden, die einen sensiblen Umgang mit Kassels Weltkolonialerbe repräsentiert. An der Personalauswahl sollte der Kulturbeirat mitwirken und die Kommission sollte mindestens zwei BIPOC-Personen umfassen.
  • Afrodeutschen Gedenkort für Schwarze Menschen schaffen: Schwarze Menschen wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert gegen ihren Willen am Hofe, im Militär und im Chinesischen Dorf Mulang zur Arbeit verpflichtet und dehumanisiert. Einer von vielen war Selim Schwartz, der am 19. März 1780 in der Fulda Suizid beging. Nach seinem Tod wurde sein Körper durch den Kasseler Anatom Samuel Thomas Soemmering seziert und diente als Grundlage für ein Schlüsselwerk des wissenschaftlichen Rassismus. Schwartz’ Tod steht für das Leiden hunderter Schwarzer Menschen, die zu Zeiten der Aufklärung in Europa lebten und in vielgestaltiger Form Rassismus erfuhren. Wir fordern einen zentralen Gedenkort, der Schwarze Geschichte in Kassel sichtbar macht.
  • Postkoloniale Provenienzforschung zentrieren: Provenienzforschung umfasst nicht nur die Raubkunst des Nationalsozialismus. Sie betrifft genauso koloniale Raubkunst, sowie den Raub von Naturschätzen. Wir fordern, die in Kassel archivierten Kollektionen systematisch auf koloniale Raubkunst zu prüfen und die Gewaltgeschichte der Objekte zu dokumentieren. Sterbliche Überreste Schwarzer Menschen, die gegen ihren Willen nach Kassel verschleppt wurden, gilt es, in einer würdevollen Zeremonie ihren Nachkommen zu übergeben.

Die Initiative kassel postkolonial setzt sich seit bereits 10 Jahren engagiert für eine Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Kassels und dem Kasseler Weltkulturerbe ein. Mit zahlreichen Stadtrundgängen für Kasselaner*innen, Student*innen, Schüler*innen, internationale Gäste und das documenta-Publikum macht die Gruppen sichtbar,  wie tief Kassel mit der Geschichte des deutschen Kolonialismus verstrickt ist. Die Gruppe solidarisiert sich ausdrücklich mit David Zabel. Die rassistischen Angriffe auf ihn verdeutlichen, dass institutionellem Rassismus im öffentlichen Diskurs, in Museen und innerhalb der Kulturbranche entschlossen entgegengetreten werden muss.

Kontakt: kassel postkolonial; Nora-Platiel-Str. 1, 34124 Kassel info@kassel-postkolonial.de

Prof. Dr. Franziska Müller: 01578 3020719

 

ECKPUNKTEPAPIER: 10 Weichenstellungen für eine dekoloniale Erinnerungskultur

  1. Hessen Kassel Heritage globalgeschichtlich kontextualisieren: 2023 wurde die Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK), das historische Erbe der Landgrafen von Hessen-Kassel, in „Hessen Kassel Heritage – Museen, Schlösser, Parks“, umbenannt. Ziel der Umbenennung war es, mit dem Begriff die Vielfalt der Erinnerungsobjekte widerzuspiegeln. „Heritage“ umfasst auch das geistige Erbe, das als weitläufiger und umfassender gerahmt wird, als nur Objekte in Museen. Die Entscheidung für Hessen Kassel Heritage bietet die Chance, an globalgeschichtliche erinnerungskulturelle Debatten anzuknüpfen. Kassel postkolonial erwartet, dass dies konsequent umgesetzt wird. Programmatik und Bildungsauftrag von geistes- und naturgeschichtlichen Museen wie dem Frankfurter Museum für Angewandte Kunst, dem Hamburger MARKK, oder dem Stuttgarter Lindenmuseum machen es vor. Das geht auch hier!

  2. Personalentscheidung diversitätssensibel gestalten: Die Causa Eberle birgt für Hessen Kassel Heritage die Chance, für die nun vakante Stelle eine Persönlichkeit zu gewinnen, die einen sensiblen Umgang mit Kassels Weltkolonialerbe repräsentiert. An der Personalauswahl sollte der Kulturbeirat mitwirken und die Kommission sollte mindestens zwei BIPOC-Personen enthalten.

  3. Kuratorische Praxis systematisch dekolonisieren: Die Causa Eberle birgt die Chance für einen rassismussensiblen Lernprozess. Eine systematische Aufarbeitung des Vorfalls ist notwendig, um diversitätssensible Leitlinien für kuratorische Praxis und Arbeitsalltag zu entwickeln. Verpflichtende rassismussensible Trainings würden allen Mitarbeiter*innen von Hessen Kassel Heritage größere Sicherheit am Arbeitsplatz verschaffen.

  4. Afrodeutschen Gedenkort für Schwarze Menschen schaffen: Schwarze Menschen mussten gegen ihren Willen am Hofe, im Militär und im Chinesischen Dorf Mulang dienen und standen in Abhängigkeit. Einer von vielen war Selim Schwartz, der am 19. März 1780 in der Fulda Suizid beging. Nach seinem Tod wurde sein Körper durch Samuel Thomas Soemmering seziert und diente als Grundlage für ein Schlüsselwerk des wissenschaftlichen Rassismus. Schwartz’ Tod steht für das Leiden hunderter Schwarzer Menschen, die zu Zeiten der Aufklärung in Europa lebten und in vielgestaltiger Form Rassismus erfuhren. Er steht für einen afropessimistischen Widerstand, der letztendlich in die absolute Verweigerung mündet. Wir fordern, sein Andenken sichtbar zu machen und einen zentralen Gedenkort an der Wilhelmshöhe einzurichten.

  5. Postkoloniale Provenienzforschung zentrieren: Provenienzforschung umfasst nicht nur die Raubkunst des Nationalsozialismus. Sie betrifft genauso koloniale Raubkunst, sowie den Raub von Naturschätzen. Wir fordern, die Kollektionen systematisch auf koloniale Raubkunst zu prüfen und die Gewaltgeschichte der Objekte zu dokumentieren.

  6. Restitutionszeremonien verankern: Die Restitution sterblicher Überreste Schwarzer Menschen, die gegen ihren Willen nach Kassel verschleppt wurden, muss Priorität erhalten. Ihre Rückgabe an die Nachfahren soll in einer würdevollen Zeremonie erfolgen.

  7. Alte Meister dekolonial lesen: Der Publikumserfolg von „Alte Meister que(e)r gelesen“ unterstreicht das Potenzial neuer Perspektiven. Daran anschließen sollte ein rassismuskritischer Blick, der sich mit der Rolle Schwarzer Menschen in Gemälden und Skulpturen befasst und parallel zur nächsten documenta eine entsprechende Ausstellung kuratiert.

  8. Symposium „Weltrassismuserbe made in Kassel?! Die Aufklärung und ihre kolonialen Schatten“ ausrichten: Kassels Beitrag zu Gedankengut und Ästhetik der Aufklärung besteht nicht nur in einem Landschaftspark mit UNESCO-Label. Der Anatom Samuel Thomas Soemmering erarbeitete hier, protegiert durch den Landgraf Friedrich II., eine Theorie des „wissenschaftlichen Rassismus“, und sezierte die Körper Schwarzer Menschen, die u.a. bei Hofe an der Wilhelmshöhe dienten. Wir fordern, die Schattenseiten aufklärerischen Gedankenguts in einem internationalen und interdisziplinären Symposium zu reflektieren und nicht länger totzuschweigen.

  9. Symposium „Settlercolonial Hessen Kassel Heritage“ ausrichten: Hessische Söldner kämpften in Kriegen weltweit. Der Soldatenhandel unter Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel brachte sie an die Fronten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Dabei wurden Schwarze Menschen als Kriegsbeute nach Kassel verschleppt. Wir fordern, diese settlerkoloniale Schuld und Verantwortung in einem Symposium hier in Kassel zu thematisieren.

  10. Anticolonial Heritage Walk: Wir mögen Dackel. Aber sie sind ein Fall für die Hundesteuer. Wir machen Ernst mit einer modernen und global ausgerichteten Erinnerungskultur. Zur nächsten documenta laden wir ein zum Anticolonial Heritage Walk auf der Wilhelmshöhe!

Veranstaltungsreihe: 140 Jahre Berliner Afrika-Konferenz – Imperialismus gestern und heute

[Plakat mit allen Veranstaltungen, s. unten]

Vor 140 Jahren trafen sich europäische Kolonialmächte in Berlin, um die Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter sich auszuhandeln. Während wenige Jahre vor der Konferenz nur ein Bruchteil Afrikas unter kolonialer Herrschaft stand, war Ende des 19. Jahrhunderts fast der gesamte Kontinent unter Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Italien, Belgien und Spanien aufgeteilt. Die Berliner Afrikakonferenz von 1884/1885 steht sinnbildlich für diesen Wettlauf um Afrika und gilt als Hochphase des europäischen Imperialismus. Vielmehr als ein historisch abgeschlossenes Phänomen, wirken imperiale Verhältnisse bis heute auf vielfältige Weise fort oder zeigen sich in neuem Gewand.

Mit dieser Veranstaltungsreihe wollen wir, das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien, die vielfältigen politischen, ökonomischen und epistemischen Verbindungslinien zwischen dem damaligen und heutigen Imperialismus nachzeichnen und diskutieren.

Inhaltlich widmet sich der erste Teil der Veranstaltung der deutschen Kolonialherrschaft in Togo und Namibia. Im zweiten Teil blicken wir auf koloniale Kontinuitäten in der globalen politischen Ökonomie und diskutieren gegenwärtige Formen des Energiekolonialismus, Neokolonialismus und Imperialismus. Zum Abschluss zeigen wir den Dokumentarfilm „Walter Rodney: What They Don’t Want You to Know”.

Die Reihe ist in Zusammenarbeit mit kassel postkolonial, BUKO, medical international, forensic architecture, der Walter Rodney Foundation und dem Ameena Gafoor Institute entstanden.

Alle Veranstaltungen sind öffentlich. Wir freuen uns auch über die rege Teilnahme von Menschen, die im Alltag nichts mit der Universität zu tun haben. Weitere Informationen zu den Veranstaltungsterminen, -orten und -zeiten können Sie dem Plakat entnehmen.

Bei Rückfragen können Sie uns gerne unter folgender Adresse kontaktieren: development_postcolonial[at]uni-kassel.de.

Postkoloniale Stadtrundgänge im Sommer 2024

Die nächsten Stadtrundgänge finden am 25.07 und 05.09, jeweils donnerstags um 17 Uhr statt. Sie dauern zwischen anderthalb und zwei Stunden. Treffpunkt ist der Halitplatz (Holländische Straße, vorm Friedhofseingang bzw. neben dem Blumenladen).

Postkoloniale Stadtrundgänge im Juni 2023

Der Winter ist vorbei und wir bieten endlcih wieder öffentliche postkoloniale Stadtrundgänge an! Die nächsten Stadtrundgänge werden am 15. und 29. Juni, jeweils um donnerstags 17 Uhr stattfinden. Sie dauern zwischen anderthalb und zwei Stunden. Treffpunkt ist der Halitplatz (Holländische Straße, vorm Friedhofseingang).

Rückfragen an: Aram Ziai, ziai@uni-kassel.de

Postkolonialismus und Antisemitismus auf der documenta fifteen: Weiterführende Links

Viel und laut wurde im vergangenen Sommer die documenta fifteen diskutiert. Bereits Monate vor ihrem Beginn sah sich die Kunstausstellung  mit Antisemitimusvorwürfen konfrontiert. Statt diese Vorwürfe zum Anlass zu nehmen, miteinander in den Dialog zu treten, standen sich am Ende der documenta noch verhärtetere Lager gegenüber: das Lager derer, die ständig neue Antisemitismus-Vorwürfe vorbringt und das Lager, das ausschließlich Rassismus beklagt.

Wir haben im Folgenden einige Links zusammengestellt, in denen Aram Ziai die Auseinandersetzungen analysiert und dazu Stellung bezieht. In seinen Beiträgen zeigt er auf, dass sich Antisemitismus- und Rassismuskritik nicht zwangsläufig feindlich gegenüberstehen müssen und wie ein möglicher Dialog aussehen könnte. Aram Ziai ist Mitglied von kassel postkolonial und lehrt im Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel.

Postkolonialismus und Antisemitismus auf der Documenta – Aram Ziai, Politologe (26.06.2022)

„Die eigenen Sichtweisen in Frage stellen“ (01.07.2022)

Antisemitismus auf der documenta: „Es ist verfehlt, das Problem auszulagern“ (28.07.2022)

Documenta und die postkolonialen Studien – Warum sollten wir nicht den Horizont erweitern?  (24.08.2022)

Koloniale (Dis-)Kontinuitäten sichtbar machen – Aktivitäten der Gruppe „witzenhausen postkolonial“

Heute wollen wir gerne den Aktivitäten der befreundeten Gruppe ‚witzenhausen postkolonial‘ Platz auf unserer Webseite einräumen. Daher folgender Text von ihnen über ihre aktuellsten Aktivitäten:

Von 1898 bis zum Ende des 2. Weltkriegs wurden an der „Deutschen Kolonialschule“ (DKS) in Witzenhausen junge Menschen landwirtschaftlich ausgebildet, um als Fachkräfte und „Kulturpioniere“  in den ehemaligen deutschen Kolonien tätig zu werden. Zwischen 1908 und 1910 existierte hier zudem eine Kolonial-Frauenschule, in der Frauen als „Kulturträgerinnen“ und Ehefrauen ausgebildet wurden.

Wir von der Gruppe witzenhausen postkolonial engagieren uns, um in Witzenhausen Prozesse auf den Weg zu bringen und Räume zu eröffnen, in denen die Geschichte und Gegenwart des Lehrstandortes Witzenhausen vor dem Hintergrund des deutschen Kolonialismus reflektiert wird. Bei wizpostkolonial sind Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven, Interessen, Erfahrungen und Zugängen zur Thematik aktiv.

Wichtige Schwerpunkte unserer Arbeit sehen wir in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Folgen des Deutschen Kolonialismus innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. Wir fragen nach der Rolle von Landwirtschaft im Kolonialismus und der Geschichte der DKS während der NS- und Nachkriegszeit. In der Geschichte des Standortes manifestieren sich verschiedene Dimension des deutschen Kolonialismus: Rassismus, Patriotismus, Paternalismus und patriarchale Machtstrukturen sowie die Konstruktion von Geschlechterverhältnissen. Dabei hinterfragen wir die Rolle von Wissenschaft bei der Produktion und Verbreitung von wissenschaftlichem Rassismus zur Legitimation weißer Dominanz.

Die Kolonialzeit stellt für viele Menschen in Deutschland ein nahezu unbekanntes Kapitel der deutschen Geschichte dar. Deshalb versuchen wir an einem „Erinnerungsort“ des deutschen Kolonialismus gemeinsam über diese Geschichte zu lernen, zu diskutieren und uns aktiv mit Menschen in verschiedenen Projekten darüber auszutauschen. Wir laden Menschen dazu ein uns bei dieser Aufgabe zu unterstützen und gemeinsam weitere Aktionen und Projekte auf den Weg zu bringen.

Unsere (bisherigen) Projekte:

  • Postkolonialer Stadtrundgang durch Witzenhausen „Auf den Spuren des kolonialen Erbes“ à Terminanfragen an wizpostkolonial@riseup.net
  • „Perspektivwechsel Witzenhausen“ initiiert vom Hessischen Rundfunk: multimediales Projekt zur kolonialen Vergangenheit Witzenhausens

(https://www.hr-inforadio.de/programm/wissenswert/wissenswert–von-hessen-nach-deutsch-afrika-witzenhausen-und-sein-koloniales-erbe,epg-so-16480.html ;

https://www.hr2.de/podcasts/literaturland-hessen–perspektivenwechsel—witzenhausen-und-sein-koloniales-erbe-,audio-44132.html ;

https://www.hr2.de/veranstaltungen/literaturland/raus-aufs-land/witzenhausen-eine-bibliothek-erzaehlt-kolonialgeschichte-,witzenhausen-110.html ;

https://www.youtube.com/playlist?list=PLUkDUgvBleSYEZPqElAcLxJHn9VZSXi0Q)

  • Engagement für ein mehrsprachiges modernes Informationskonzept zur Standortgeschichte auf dem Campus
  • Seminar (Fundamentale) am FB 11 mit dem Titel „Koloniale (Dis-)Kontinuitäten“
  • Unterstützung der studentischen Initiative zum Erhalt der Agrargeschichte

(Kontakt über: wizpostkolonial@riseup.net)

Offener Brief an die Kasseler Polizei (Stand 06.07.2020)

Bekir Efe wurde am 21.06.2020 um 4:50 Uhr nachts in der Kasseler Nordstadt, während seiner Arbeitszeit als Minicar-Fahrer, von seinem Fahrgast in den Hals gestochen, nachdem ihn dieser als “Scheiß Ausländer” beschimpft hatte. Dieser „Fahrgast“ ist geflohen und wurde bisher noch nicht ausfindig gemacht.

Nach dem Angriff hatte Efe noch die Kraft zum naheliegenden Krankenhaus zu fahren, wo er behandelt wurde. Er hat überlebt. Jedoch stellt ein solcher Angriff ein traumatisches Erlebnis dar. Die Heilung der physischen und psychischen Verletzungen obliegt nicht nur Efe allein. Der Heilungsprozess ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

In Solidarität mit Efe möchten wir mit diesem Brief alle Menschen in Kassel ansprechen und adressieren ihn darüber hinaus direkt an Sie, die Polizei. Denn Sie sind diejenigen, die die Tat aufklären und die Bevölkerung mit Informationen versorgen, indem Sie beispielsweise ihren Stand der Ermittlungen an die HNA weitergeben.  

Rassistische Erniedrigungen, Beleidigungen und Angriffe erfahren migrantische Taxifahrer und Taxifahrerinnen of Colour tagtäglich. Sie machen diese Erfahrung, weil sie als ‘nicht-weiß’ gelesen werden und ihnen damit die Zugehörigkeit zu und Daseinsberechtigung in Kassel und Deutschland abgesprochen wird. Dies wird als Anlass genommen, um einen Menschen zu erniedrigen.

Jede rassistische Tat ist übergriffig und kann, wie bei Efe, einen lebensbedrohlichen Eingriff in das Leben der Betroffenen darstellen. Rassistisches Denken und Handeln ist immer eine Form von Gewalt und richtet sich ganz eindeutig gegen Menschen, da es ihnen die grundlegende Würde – bis zur Entmenschlichung – abspricht.

Sie, die Polizei, tragen Verantwortung dafür, die Bevölkerung Kassels korrekt aufzuklären. Enthalten Sie uns wichtige Informationen nicht vor. Rassismus muss explizit benannt werden, wenn er passiert. Nur wenn wir wissen, wo und wie sich Rassismus ausdrückt, können wir ihm als Gesellschaft entschlossen entgegentreten.

Warum stellen Sie bis heute das rassistische Tatmotiv in Frage? Sie haben bisher drei Pressemitteilungen herausgegeben, wovon erst in der dritten Pressemitteilung, zehn Tage nach dem rassistischen Mordversuch an Bekir Efe die Rede von einem “möglicherweise fremdenfeindlichen Tatmotiv” ist. Das ist zu spät, irreführend und reicht nicht aus:

  1. Zu spät, weil Bekir Efe die Polizei umgehend über die rassistischen Aussagen des Täters informiert hat: wieso also noch zehn Tage warten und dann gegenüber der Öffentlichkeit von “möglicherweise” sprechen?
  2. Irreführend, weil Bekir Efe nicht “fremd” ist: Er ist Kasseler, lebt und arbeitet hier. “Fremdenfeindlichkeit” richtet sich beispielsweise nicht gegen weiße Französinnen und Franzosen, welche nationalstaatlich gesehen “fremd” wären. Fangen auch bitte Sie an, rassistische Denkmuster und Sehgewohnheiten zu benennen, statt sich selbst und andere in die Irre zu führen, wenn Sie ihre Ermittlungen “auf Hochtouren” laufen lassen wollen.
  3. Ihr Hinweis ist nicht ausreichend, weil Sie mit ihrer relativierenden Aussage a) die von Bekir Efe erlebte rassistische Dimension der Gewalt nicht vollständig anerkennen b) (migrantische) Kasselerinnen und Kasseler of Color nicht vor einem gewaltbereiten rassistischen frei herumlaufenden Täter warnen und c) siehe 1 und 2.

Wie viele Informationen, wie viele Videos und wie viele Zeugen und Zeuginnen braucht die Gesellschaft noch, um rassistisch motivierte Gewalt als Realität anzuerkennen? Was muss – nach dem Mord an Walter Lübcke und dem Mord an Halit Yozgat durch den NSU – noch passieren, damit die vielen rassistischen Täter und Täterinnen, wie auch dieser „Fahrgast“, zur Rechenschaft gezogen werden? Wann können (migrantische) Kasseler und Kasseler*innen of Colour sich sicherer in dieser Stadt fühlen und sich auf eine Polizei verlassen, die rassistische Hasskriminalität konsequent verfolgt?

Wir fordern Sie – die Polizei – dazu auf, 

… das offensichtlich rassistische Tatmotiv anzuerkennen, explizit als solches zu benennen und NICHT zur Debatte zu stellen, dass es sich um ein rassistisches Verbrechen handelt.

… ALLES für Sie Mögliche zu tun, um Efe‘s rassistischen, gewaltvollen und momentan flüchtigen „Fahrgast“ zu finden, damit Efe ihn zumindest rechtlich stellen kann.

Wir laden Sie als Leser und Leserin dieses offenen Briefes dazu ein,

… für Efe und gegen rassistisch motivierte verbale und physische Gewalt in Kassel aufzustehen.

… sich am Mittwoch, den 08.07.2020 ab 16:00 Uhr der Demonstration “Solidarität mit Efe” anzuschließen (Treffpunkt Halitplatz).

… für Efe zu spenden, da er wegen der Gewalttat momentan nicht arbeiten kann und nun kein Einkommen hat. Mehr zur Spendenkampagne: https://www.betterplace.me/solimitefe

Als Teil der Stadtgesellschaft fordern wir die lückenlose Aufklärung des Falls. Rassistische Angriffe dürfen in Kassel nicht mehr passieren.

Unterzeichnet von:

Initiative 6. April, kassel postkolonial und weitere Vereine, sowie migrantische Selbstorganisationen in Kassel