Bekir Efe wurde am 21.06.2020 um 4:50 Uhr nachts in der Kasseler Nordstadt, während seiner Arbeitszeit als Minicar-Fahrer, von seinem Fahrgast in den Hals gestochen, nachdem ihn dieser als “Scheiß Ausländer” beschimpft hatte. Dieser „Fahrgast“ ist geflohen und wurde bisher noch nicht ausfindig gemacht.
Nach dem Angriff hatte Efe noch die Kraft zum naheliegenden Krankenhaus zu fahren, wo er behandelt wurde. Er hat überlebt. Jedoch stellt ein solcher Angriff ein traumatisches Erlebnis dar. Die Heilung der physischen und psychischen Verletzungen obliegt nicht nur Efe allein. Der Heilungsprozess ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
In Solidarität mit Efe möchten wir mit diesem Brief alle Menschen in Kassel ansprechen und adressieren ihn darüber hinaus direkt an Sie, die Polizei. Denn Sie sind diejenigen, die die Tat aufklären und die Bevölkerung mit Informationen versorgen, indem Sie beispielsweise ihren Stand der Ermittlungen an die HNA weitergeben.
Rassistische Erniedrigungen, Beleidigungen und Angriffe erfahren migrantische Taxifahrer und Taxifahrerinnen of Colour tagtäglich. Sie machen diese Erfahrung, weil sie als ‘nicht-weiß’ gelesen werden und ihnen damit die Zugehörigkeit zu und Daseinsberechtigung in Kassel und Deutschland abgesprochen wird. Dies wird als Anlass genommen, um einen Menschen zu erniedrigen.
Jede rassistische Tat ist übergriffig und kann, wie bei Efe, einen lebensbedrohlichen Eingriff in das Leben der Betroffenen darstellen. Rassistisches Denken und Handeln ist immer eine Form von Gewalt und richtet sich ganz eindeutig gegen Menschen, da es ihnen die grundlegende Würde – bis zur Entmenschlichung – abspricht.
Sie, die Polizei, tragen Verantwortung dafür, die Bevölkerung Kassels korrekt aufzuklären. Enthalten Sie uns wichtige Informationen nicht vor. Rassismus muss explizit benannt werden, wenn er passiert. Nur wenn wir wissen, wo und wie sich Rassismus ausdrückt, können wir ihm als Gesellschaft entschlossen entgegentreten.
Warum stellen Sie bis heute das rassistische Tatmotiv in Frage? Sie haben bisher drei Pressemitteilungen herausgegeben, wovon erst in der dritten Pressemitteilung, zehn Tage nach dem rassistischen Mordversuch an Bekir Efe die Rede von einem “möglicherweise fremdenfeindlichen Tatmotiv” ist. Das ist zu spät, irreführend und reicht nicht aus:
- Zu spät, weil Bekir Efe die Polizei umgehend über die rassistischen Aussagen des Täters informiert hat: wieso also noch zehn Tage warten und dann gegenüber der Öffentlichkeit von “möglicherweise” sprechen?
- Irreführend, weil Bekir Efe nicht “fremd” ist: Er ist Kasseler, lebt und arbeitet hier. “Fremdenfeindlichkeit” richtet sich beispielsweise nicht gegen weiße Französinnen und Franzosen, welche nationalstaatlich gesehen “fremd” wären. Fangen auch bitte Sie an, rassistische Denkmuster und Sehgewohnheiten zu benennen, statt sich selbst und andere in die Irre zu führen, wenn Sie ihre Ermittlungen “auf Hochtouren” laufen lassen wollen.
- Ihr Hinweis ist nicht ausreichend, weil Sie mit ihrer relativierenden Aussage a) die von Bekir Efe erlebte rassistische Dimension der Gewalt nicht vollständig anerkennen b) (migrantische) Kasselerinnen und Kasseler of Color nicht vor einem gewaltbereiten rassistischen frei herumlaufenden Täter warnen und c) siehe 1 und 2.
Wie viele Informationen, wie viele Videos und wie viele Zeugen und Zeuginnen braucht die Gesellschaft noch, um rassistisch motivierte Gewalt als Realität anzuerkennen? Was muss – nach dem Mord an Walter Lübcke und dem Mord an Halit Yozgat durch den NSU – noch passieren, damit die vielen rassistischen Täter und Täterinnen, wie auch dieser „Fahrgast“, zur Rechenschaft gezogen werden? Wann können (migrantische) Kasseler und Kasseler*innen of Colour sich sicherer in dieser Stadt fühlen und sich auf eine Polizei verlassen, die rassistische Hasskriminalität konsequent verfolgt?
Wir fordern Sie – die Polizei – dazu auf,
… das offensichtlich rassistische Tatmotiv anzuerkennen, explizit als solches zu benennen und NICHT zur Debatte zu stellen, dass es sich um ein rassistisches Verbrechen handelt.
… ALLES für Sie Mögliche zu tun, um Efe‘s rassistischen, gewaltvollen und momentan flüchtigen „Fahrgast“ zu finden, damit Efe ihn zumindest rechtlich stellen kann.
Wir laden Sie als Leser und Leserin dieses offenen Briefes dazu ein,
… für Efe und gegen rassistisch motivierte verbale und physische Gewalt in Kassel aufzustehen.
… sich am Mittwoch, den 08.07.2020 ab 16:00 Uhr der Demonstration “Solidarität mit Efe” anzuschließen (Treffpunkt Halitplatz).
… für Efe zu spenden, da er wegen der Gewalttat momentan nicht arbeiten kann und nun kein Einkommen hat. Mehr zur Spendenkampagne: https://www.betterplace.me/solimitefe
Als Teil der Stadtgesellschaft fordern wir die lückenlose Aufklärung des Falls. Rassistische Angriffe dürfen in Kassel nicht mehr passieren.
Unterzeichnet von:
Initiative 6. April, kassel postkolonial und weitere Vereine, sowie migrantische Selbstorganisationen in Kassel