Artikel: Antisemitismus, Rassismus und postkoloniale Studien. Drängende Fragen zur „Causa Mbembe“

In dem Text „Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus“ in der taz vom 25./26. April[1] werfen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel dem kamerunischen und in Südafrika lehrenden Historiker Achille Mbembe Antisemitismus vor und werfen den postkolonialen Studien Ignoranz gegenüber Antisemitismus und ein manichäisches Weltbild vor. Beide Thesen halte ich für problematisch.

Vorab, zur Klarstellung und zur Vermeidung von Frontenbildung: Wir alle sind durch unsere Sozialisation u.a. mit rassistischen und antisemitischen Argumentationsmustern in Berührung gekommen und reproduzieren sie, wenn wir uns nicht selbstkritisch mit ihnen auseinandersetzen. Antisemitismus ist auch heutzutage ein brandgefährliches gesellschaftliches Problem, das weithin unterschätzt wird, und in manchen Fällen ist Israelkritik tatsächlich ein Ventil für antijüdische Ressentiments. Doch genau wie in der Critical Whiteness schießen auch in der Antisemitismusforschung manche Leute übers Ziel hinaus und urteilen zu schnell, zu pauschal und zu scharf. So wie hier: Cheema und Mendel weisen darauf hin, dass Mbembe die israelische Palästinenserpolitik mit der Apartheidpolitik Südafrikas vergleicht bzw. gleichsetzt und das alttestamentarische Prinzip „Auge um Auge“ ursächlich mit „Zerstörungsideologien“ auf der Welt verknüpft. Es braucht schon eine recht weite, vielleicht zu weite Definition, um dies als hinreichend für Antisemitismus anzusehen, aber es ist nicht komplett aus der Luft gegriffen. Unredlich wird es allerdings, wenn die Autor_innen Mbembe unterstellen, für seine Art von Israelkritik sei „das Problem … die schiere Existenz des Judenstaats“. In dem von ihnen zitierten Artikel in der ZEIT schreibt Mbembe unmissverständlich: „das Existenzrecht Israels ist grundlegend für das Gleichgewicht der Welt“.[2]

Man könnte jetzt natürlich einwenden, Mbembe sei durch die Unterstützung der BDS-Kampagne überführt, da er 2015 ein Vorwort für ein Buch verfasst hat, dessen Erlös einer BDS-Gruppe gespendet wurde.[3] Zwar bestreitet auch BDS nicht offen das Existenzrecht Israels, fordert aber das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und BDS-Vertreter_innen haben zumindest das Ende Israels als jüdischer Staat und eine Einstaatenlösung gefordert. Die Indizienkette ist jedoch lang und Mbembes gegenteilige Aussage eindeutig. Warum die Autor_innen dies nicht zur Kenntnis nehmen, bleibt ihr Geheimnis. Ebenso, warum sie bei der Problematisierung des Apartheid-Vergleichs nicht berücksichtigen, dass in Südafrika israelkritische Positionen aus einer Tradition des Widerstands gegen einen Staat stammen, der das Atomwaffenprogramm des Apartheid-Regimes unterstützte. Stattdessen stellen sie seine Äußerungen in einen anderen, vermeintlich „kolonialen“ Kontext: „deutsche Israelfeinde, die sich zur Legitimation ihrer Abneigung Schützenhilfe aus Südafrika einfliegen lassen“. Agency auf seiten Schwarzer Menschen? Fehlanzeige.

Wenn jedoch das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels so eine wichtige Rolle einnimmt, drängt sich die Frage auf, was mit dem Existenzrecht eines palästinensischen Staates ist, der seit Jahrzehnten von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung eingefordert wird, aber in der Debatte eine scheinbar untergeordnete Rolle spielt. Dies wird bisweilen gerechtfertigt mit dem Verweis darauf, dass die Existenz des Staates Israel die Konsequenz aus der Shoah (und davor schon jahrhundertelanger Verfolgung in Europa) war und somit einen besonderen Stellenwert hat. Doch wären dann nicht die Europäer_innen und an erster Stelle die Deutschen verpflichtet gewesen, den jüdischen Menschen Land abzutreten und ihnen einen eigenen Staat zu ermöglichen? Warum wurde stattdessen das den Palästinenser_innen versprochene Land weggenommen? Natürlich gab es auf jüdischer Seite den berechtigten Wunsch nach einer Heimat in Jerusalem. Aber den gab es auch auf palästinensischer Seite. Warum sollten arabische Menschen für die Verbrechen der Europäer_innen (v.a. der Deutschen) Vertreibung erleiden? Wer hat das überhaupt entschieden? Palästina war britisches Mandatsgebiet. Die Entstehung eines jüdischen Staates hat also nicht nur mit dem Krieg arabischer Staaten gegen Israel einerseits und mit britischen außenpolitischen Interessen und der zionistischen Bewegung andererseits zu tun, sondern auch mit Kolonialismus. Davon ist allerdings in der Debatte selten die Rede. Aus postkolonialer Perspektive zeigt sich hier ein wiederkehrendes Muster in der europäischen Öffentlichkeit: ein blinder Fleck.

Es trifft zu, dass der Apartheid-Vergleich problematisch ist, weil arabischstämmige bzw. nichtjüdische Menschen in Israel weitaus mehr Bürgerrechte genießen als Schwarze im rassistischen Südafrika bis zum Anfang der 1990er (wenn auch keine völlige rechtliche Gleichstellung). Es trifft allerdings auch zu, dass die israelische Besatzungspolitik die Kritierien der UN-Apartheidkonvention durchaus erfüllt und völkerrechtswidrig und menschenverachtend ist (letzteres sind Anschläge der Hamas auf israelische Zivilist_innen übrigens auch). Und es trifft zu, dass tatsächlich auffällig ist, wie oft die israelische Besatzungspolitik in der Weltöffentlichkeit kritisiert wird, im Vergleich zur chinesischen Besatzungspolitik in Tibet, oder der marokkanischen in der Westsahara. Auch hier wird mit zweierlei Maß gemessen.

Aber wenn wir in der deutschen Medienlandschaft über zweierlei Maß reden, drängt sich auch die Frage auf: wenn der sehr dünne Antisemitismusbefund im vorliegenden Fall für eine „Causa Mbembe“ (taz) ausreicht, warum haben wir dann keine Causa Martenstein oder Posener oder Stein? Alle drei Journalisten haben in den letzten Jahren in  angesehenen deutschen Tageszeitungen den Kolonialismus und Imperialismus samt seiner auf Rassismus gegründeten Willkürherrschaft verharmlost und zu rehabilitieren versucht, mit sehr viel eindeutigeren Äußerungen.[4] Kein Skandal, nirgends. Aus Perspektive der postkolonialen Studien bleibt zu hoffen, dass es ihn wenigstens gäbe, wenn einer der drei einen Frantz-Fanon-Preis bekommen sollte.

Genau diese postkolonialen Studien werden von Cheema und Mendel in dem Beitrag scharf kritisiert. Mbembe stehe emblematisch dafür, dass sie Israel dämonisierten und unfähig seien, Antisemitismus als Problem ernst zu nehmen. Denn sie verstünden ihn ganz überwiegend als „nur eine andere Form von Rassismus“. Dies wird von ihnen offenbar als eine Abwertung empfunden, die das „Einzigartige“ am Antisemitismus ignoriert. Nun ist es in der Tat so, dass die Konstruktion der Andersartigkeit von jüdischen Menschen anders geprägt ist als die von muslimischen oder afrikanischen Menschen: „die Juden“ seien habgierig und einflussreich. Aber wie soziologische Theorien über „middlemen minorities“ (ethnische Minderheiten, die primär im Handel und Gewerbe tätig sind bzw. sein mussten) aufzeigen, ist dies gar nicht so weit weg von der Art, wie chinesische Menschen in Südostasien und indische Menschen in Ostafrika diskriminiert werden: als reiche Parasiten. Sicher, es gibt auch die Vorstellung von Übermacht und Verschwörung im Antisemitismus. Aber finden sich nicht auch Ähnlichkeiten in der Vorstellung eines Pakts von Eliten und Muslimen zum Bevölkerungsaustausch in Deutschland?

Doch auch wenn sich Antisemitismus von allen anderen Formen des Othering unterschiede: warum können verschiedene Arten von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht alle gleichberechtigt mitsamt ihrer Spezifika analysiert werden, wie in der vergleichenden Völkermordforschung?[5] Warum soll es eine Abwertung sein, Antisemitismus „nur“ als eine Form von Rassismus zu begreifen? Warum muss hier eine Sonderrolle reklamiert werden? Eine Sonderrolle, die auch in den Schlagwörtern „Singularität des Holocaust“ und „Zivilisationsbruch Auschwitz“ zum Ausdruck kommt. Aimé Césaire vertrat die These, dass die Shoah vom weißen Europa nur deswegen als so schockierend empfunden worden sei, weil die Nazis weiße Europäer_innen rassistischen Praktiken unterwarfen, die vorher nur auf nichtweiße Menschen in Afrika, Asien und Amerika angewandt worden sein.[6] Sind einige Opfer „gleicher als andere“?

Wenn, wie Cheema und Mendel schreiben, einige postkoloniale Theoretiker_innen Verständnis für Selbstmordattentate gegen israelische Zivilist_innen äußern, ist dies kritikwürdig. Hieraus jedoch eine „einseitige Parteinahme gegen Israel“ der ganzen Disziplin abzuleiten, ist nicht plausibel, ebensowenig wie die pauschale Behauptung einer „Leerstelle“ im Bereich Antisemitismus oder eines „manichäischen Weltbilds“. In den Sammelbänden „Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart“ und „Postkoloniale Politikwissenschaft“ setzen sich jeweils gleich mehrere Artikel auch mit Antisemitismus auseinander.[7] Und postkoloniale Theoretiker_innen wie Stuart Hall oder Homi Bhabha haben sehr deutlich auf die Rolle der Kolonisierten und Ambivalenzen im kolonialen Diskurs hingewiesen, fernab von den unterstellten simplen Zweiteilungen in Unterdrücker und Unterdrückte.[8]

Woher rührt also die einseitig negative Wahrnehmung der postkolonialen Studien, die ja auch von rechter Seite neuerdings als akademischer Hauptfeind ausgemacht werden?[9] Antisemitismus konstruiert Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit als anders und legitimiert ihre Abwertung und Ausgrenzung, ähnlich wie andere Rassismen. Linke Wissenschaftler_innen beider Felder kämpfen insofern gegen bzw. für die gleiche Sache. Kritik an Verkürzungen und blinden Flecken der jeweils anderen Seite – vermeintlichen oder tatsächlichen – sollte dies nicht aus den Augen verlieren.

 

Aram Ziai ist Mitglied von kassel postkolonial und lehrt im Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel. Er dankt Bilgin Ayata, Daniel Bendix (kassel postkolonial) und Franziska Müller (kassel postkolonial) für hilfreiche Kommentare.

 

[1]https://taz.de/Postkoloniale-Theoretiker/!5678482/ (27.4.2020)

[2]https://www.zeit.de/2020/18/antisemitismus-achille-mbembe-vorwuerfe-holocaust-rechtsextremisus-rassismus (27.4.2020)

[3]https://www.zeit.de/2020/18/achille-mbembe-antsemitismus-vorwurf-israel (27.4.2020)

[4]https://www.welt.de/debatte/kommentare/article149662414/Die-Entkolonisierung-war-eine-Katastrophe.html (27.4.2020), https://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/41/harald-martenstein-fluechtlinge-kolonialismus (27.4.2020), https://www.welt.de/debatte/kommentare/article204715322/Westafrika-und-die-EU-Die-EU-tritt-das-Erbe-der-Imperialisten-an-Gut-so.html (27.4.2020).

[5]Z.B. Chalk, Frank/Jonassohn, Kurt 1990: The History and Sociology of Genocide. Analyses and Case Studies. New Haven: Yale University Press und Fein, Helen 1990: Genocide: A Sociological Perspective, in: Current Sociology 38 (1), 1-126.

[6]Césaire, Aimé 1968 (1955): Über den Kolonialismus. Berlin: Wagenbach, S. 12.

[7]Castro Varela, Maria do Mar/Mecheril, Paul (Hg.) 2016: Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: Transcript. Ziai, Aram (Hg.) 2016: Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und Empirische Zugänge. Bielefeld: Transcript.

[8]Bhabha, Homi 2000: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. Hall, Stuart 1994: Rassismus, Kultur und Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument.

[9]https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/unter-kolonialen-haerten-versteht-13548449.html (27.4.20).