Krieg made in Kassel

Als Rüstungs- und Waffenhochburg genießt Kassel internationalen Ruf. Einige der größten Hersteller militärischer Güter und Infrastruktur – seien es Panzer, Forschungseinrichtungen oder Ausbildungszentren der Bundeswehr – haben ihren Sitz in der Stadt, deren militärische Tradition mehrere Jahrhunderte zurückreicht. Unternehmen wie Krauss-Maffei Wegmann oder Rheinmetall Defence sind wichtige Exporteure in weltweite Konfliktregionen. Etwa die Hälfte der hessischen Rüstungsproduktion stammt derzeit aus Kassel. Die Stadt ist einer der bundesweit zentralen Militärstandorte.

Die historisch und gegenwärtig enorme Präsenz der Rüstungsindustrie in der Stadt, anhand derer sich die Kontinuität der deutschen Täter*innengesellschaft als doppelte – des Kolonialismus und des Nationalsozialismus – bis in die Gegenwart rekonstruieren lässt, ist im heutigen Stadtbild zugleich höchst sichtbar und höchst unsichtbar. Unsichtbar sind die Rüstungsfirmen (panzerknacken [http://panzerknacken.blogsport.de/ruestungsfirmen-in-kassel/] benennt fünf davon inkl. Adressen) und ihre Produkte (die Panzertransporte geschehen nachts oder frühmorgens). Höchst sichtbar ist der fundamentale architektonische und urbanistische Wandel der Stadt durch ihren Wiederaufbau nach der Zerstörung durch Luftangriffe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, die eine Stadt angriffen, die sich zu einem der wichtigsten Rüstungszentren Nazideutschlands entwickelt hatte: „Während der NS-Zeit waren in Kassel insgesamt 21 Rüstungsbetriebe ansässig“[1]. Deren enorme Produktivität wurde vor allem während des Zweiten Weltkrieges durch die Arbeit tausender Zwangsarbeiter*innen ermöglicht, die, mit falschen Versprechungen rekrutiert oder zwangsverschleppt, unter miesesten Lebensbedingungen ausgebeutet wurden.[2]

In seiner Rolle als Rüstungsstandort schreibt Kassel kontinuierliche Stadt- und Landesgeschichte. Bereits mit Ende des 30-jährigen Krieges etablierte sich hier eines der ersten stehenden Heere im deutschsprachigen Raum und formte Kassel über Jahrhunderte hinweg zur Garnisonsstadt. Festungs- und Kasernenanlagen, ebenso wie strategische Truppenstützpunkte prägten vor allem im 17. und 18 Jahrhundert das Bild der Stadt. Truppen aus der Landgrafschaft Hessen-Cassel sind in diesem Zeitraum auch weit über Europa hinaus an Konflikten beteiligt. Als mietbare Ware werden sie im sog. Soldatenhandel zur wichtigen Einkommensquelle der Region. Ein Geschäft, das vor allem unter Landgraf Karl I. (1677-1730) und dessen Nachfolgern floriert und uns bis heute die transnationale Bedeutung militärischer Apparate aufzeigen kann:

„1678 überließ er 1000 Mann an Venedig zum Krieg gegen die Türken in Morea, 1702 gab er 9000 Hessen an die Seemächte, 1706 dienten deren 11500 Mann in Italien, und nach dem Utrechter Frieden vermietete er wieder 12000 Hessen an Georg I.[…] Sodann durften die hessischen Truppen [1776] im Dienst Englands nur auf dem Kontinent von Nordamerika verwendet werden; sie hatten ihre eigenen Ärzte und Spitalseinrichtungen, die ebenfalls vom König von England unterhalten werden mussten, und erhielten ihre Löhnung nicht vom englischen Zahlmeister, sondern direkt vom Landgrafen, in dessen Kriegskasse die zu diesem Zweck bestimmte Summe eingezahlt werden mußte.“[1]

Die Geschichte des historischen Kolonialismus und Imperialismus Europas, sie ist immer eine gesamteuropäische. So ist auch die Beteiligung hessischer und deutscher Truppen an den Kolonialkriegen europäischer Großmächte bedeutend für deren militärische Stärke. Deutsche Herrscher*innenhäuser beteiligten sich sowohl mit Soldaten als auch mit militärischer Infrastruktur an kolonialen Raubzügen, auch lange bevor das Deutsche Kaiserreich formell seine eigene Kolonialpolitik einleitet. Die gewaltsamen Kolonisierungsbestrebungen der europäischen Staaten erforderten gleichzeitig einen Ausbau und Export von Kriegsmaschinerien und entsprechenden Transportwegen unter europäischer Kontrolle. Zwei der bedeutendsten Kassler Unternehmen in diesem Zusammenhang sind die Betriebe Henschel oder Wegmann und Co, die im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an mehreren europäischen Bauvorhaben in kolonisierten Gebieten beteiligt sind. So sind die Henschel-Werke und der Vorläufer der heutigen Krauss Maffei-Wegmann GmBH Wegmann und Co mit vielfachen Exporten am Bau zentraler Eisenbahnstrecken inkl. Waggons beteiligt. U.a. entstehen aus den Produkten von Henschel die Usambara-Bahn (von Tanga zum Victoriasee), die Zweite Deutsche Kolonialbahn (von Swakopmund nach Windhuk) oder die Togo Bahn. Mit dem Ausbau des Streckennetzes auf dem afrikanischen Kontinent erhielt die Rohstoffausbeutung durch europäische Kolonisator*innen eine neue Intensität, gleichzeitig dienten sie zum Transport ganzer Truppeneinheiten, die zur Niederschlagung vielfältigster Widerstandsakte ins Landesinnere gelangen.

Auch mit dem formalen Ende der deutschen Kolonialherrschaft bleiben Kassler Unternehmen in die kolonialen Bestrebungen der europäischen Staaten involviert und sind bis heute in kriegerische Handlungen weltweit eingebunden. Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge aus den Werken Wegmanns (heute als Krauss-Maffei Wegmann) gelten als Marktführer in ihrem Bereich. Aus den Produktionsstätten Kassels gelangen so z.B. die Leopard Panzer Reihe oder diverse Raketenwerfer in Kriegsgebiete auf der ganzen Welt, wie Afghanistan, Irak oder Syrien. Insbesondere in Afghanistan kamen ebenfalls Transportpanzer eines weiteren der großen Rüstungshersteller mit Standort in Kassel zum Einsatz. Mit dem Zusammenschluss der Unternehmen Rheinmetall und MAN (Rheinmetall MAN Military Vehicles „RMMV“) wurden hier bisher ca. 1300 FUCHS Panzer hergestellt und exportiert. Über klassische Formen der Waffenlieferungen gehen diese Geschäfte mittlerweile weit hinaus: Seit 2014 produziert Rheinmetall unter Beteiligung von Thyssen-Krupp und Daimler Panzer auch direkt in Konfliktregionen, wie beispielsweise über die Etablierung von Panzerwerken in Algerien. Deutschlands Rolle als einer der führenden Waffenexporteure wird zu großen Teilen auch von den unterschiedlichen Werken in Kassel getragen, deren Traditionen weit in die Geschichte der Stadt zurückreichen. Ähnlich wie Wegmann und Co ist auch die Unternehmenshistorie der Henschel-Werke trotz einiger Veränderungen keineswegs gebrochen. Als Thyssen-Henschel ist es mittlerweile Teil der Rüstungsgesellschaft Thyssen-Krupp.

Militarismus ist notwendigerweise ein transnationales Geschäft: In seiner Kontinuität kann weder die Produktion oder Rekrutierung militärischer Streitkräfte und Infrastruktur auf seinen nationalen oder gar lokalen Rahmen beschränkt bleiben, ebenso wie die Folgen von seinem Einsatz grenzüberschreitend sind. Die Unterstützung kriegerischer Handlungen, von Ausbeutungsverhältnisse und despotischen Regierungen durch deutsche Unternehmen hat enormen Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den Einsatzgebieten. Letztlich können uns militaristische Strukturen verdeutlichen wie verwoben diese weltweiten gesellschaftlichen Entwicklungen miteinander sind. In Kassel scheinen Panzer auf den Straßen auf dem Weg in ihre Einsatzgebiete zu einem gängigen Bild geworden zu sein – militaristische Normalität, deren tödliche Folgen kaum noch Aufsehen erregen. Gleichzeitig beweisen Flucht- und Migrationsbewegungen aus Kriegsgebieten unumstößlich, dass Militarismus und Krieg eben keine Phänomene sind, die sich aus Kassel gänzlich exportieren lassen.

[1] Vollmer, Thomas, 2013: Rüstungszentrum Kassel – eine ungebrochene Tradition. In: Flemming, Jens / Krause-Vilmar, Dietfried (Hg.): Kassel in der Moderne. Studien und Forschungen zur Stadtgeschichte. Marburg: Schüren, 312.
[2] Krause-Vilmar, Dietfrid, 2013: Ausländische Zwangsarbeiter in Kassel – ein Rückblich. In: Flemming, Jens / Krause-Vilmar, Dietfried (Hg.): Kassel in der Moderne. Studien und Forschungen zur Stadtgeschichte. Marburg: Schüren, 182-193
[3]  http://gutenberg.spiegel.de/buch/-7425/6