Das Adjektiv ‚postkolonial‘ bezieht sich auf aktivistische, antikoloniale Sichtweisen wie auch theoretische Perspektiven der Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften, die dem Fortwirken von Kolonialismus in herrschaftskritischer Absicht nachspüren.[1] Es geht dabei um die 500-jährige Kolonisierung des globalen Südens durch europäische Gesellschaften. In der Folge standen 84 Prozent der Welt formell unter europäischer Herrschaft. Deutsche waren an der Kolonisierung der Welt von Anfang an beteiligt. Um die mit kolonialer Eroberung und Ausbeutung verbundene Gewalt zu rechtfertigen, wurden Ideen von einer angeblichen Überlegenheit Europas entwickelt und verbreitet. Diese Ideen leben bis heute in Form von Rassismus in alltäglichen Handlungen und Denkweisen von Menschen ebenso wie in den Strukturen von Institutionen fort, aber auch in der Vorstellung vom Westen als entwickelt und daher berechtigtem Vorbild des vermeintlich unterentwickelten Restes der Welt.
Wir verstehen ‚postkolonial‘ als eine kritische theoretische Perspektive, die Kolonialismus als fundamentalen historischen Wendepunkt einordnet, der mehr als direkte Herrschaft über Land und Ressourcen bedeutet und bis heute Auswirkungen hat sowohl auf Menschen, die in ehemals kolonisierten Gesellschaften lebten und leben, als auch auf Menschen, die in den Gesellschaften der ehemaligen Kolonisator*innen leben. Als Denk- und Forschungsperspektive verstanden geht es um geschichts-, wirtschafts-, politik-, sozial-, kultur- und literaturwissenschaftliche und künstlerische Untersuchungen der Auswirkungen des Kolonialismus während und nach der formellen Kolonialzeit. Das ‚post‘ in ‚postkolonial‘ meint also nicht ein zeitliches ‚Danach‘, sondern steht quer zu dieser Chronologie.
Eines der Anliegen solcher Perspektiven ist es, ein eurozentrisches Geschichtsbild infrage zu stellen. Dieses Bild stellt Europa ins Zentrum der Weltgeschichte; außereuropäische Entwicklungen erscheinen lediglich als nachholendes Durchlaufen europäischer Stadien. So kann ausgeblendet werden, dass Europas Vergangenheit und Gegenwart ohne außereuropäische Einflüsse nicht verständlich ist. Nur durch die europäische Kolonialaggression aber war es überhaupt möglich, die Vorstellung einer europäischen Moderne etablieren zu können.
Neben der zeitlichen Dimension spielt die Frage von Räumlichkeit für postkoloniale Untersuchungen eine herausragende Rolle: Im Gegensatz zu einer strikten Trennung zwischen „dem Westen und dem Rest“[2] arbeiten postkoloniale Analysen heraus, wie Migrationsbewegungen und ebenso die Verschleppung von Menschen verschiedene Räume der Welt verbinden [Link zu Flucht/Migration/Asyl]. Sie zeigen also auf, wie Konstrukte wie ‚der Westen‘ und ‚der Süden‘ in wechselseitiger ökonomischer, politischer und kultureller Abhängigkeit stehen.
Postkoloniale Perspektiven sind darum bemüht, im Bewusstsein der komplexen, gewaltvollen politischen wie theoretischen Fortwirkungen des Kolonialismus über koloniale Denkmuster hinauszuweisen. Sie zielen demnach auf eine umfassende Dekolonisierung gegenwärtiger Repräsentations- und Machtverhältnisse – im Wissen darum, dass die Kritiker*innen sich allzu oft selbst in privilegierten Positionen befinden. Da aus postkolonialer Perspektive Wissenschaft eine zentrale Rolle in der gewaltvollen Expansion Europas gespielt hat, liegt es nahe, die Produktion von Macht-Wissen selbst kritisch zu beleuchten. Herrschaftskritische, Schwarze, indigene und nicht-weiße Neufassungen sozial- und geisteswissenschaftlicher Methodologien eröffnen Räume für die Produktion und Systematisierung von Gegenwissen, das (ehemals) Kolonisierte zu Subjekten einer dekolonisierenden Analyse macht.
Anstatt Kolonialismus und dessen Kontinuitäten in der Gegenwart rein ökonomisch, politisch oder in Bezug auf militärische Interventionen unter die Lupe zu nehmen, konzentriert sich eine postkoloniale Herangehensweise besonders auf Fragen der kolonialen Prägung von Wissensproduktion, Repräsentation und Identitätsbildung nach der formalen Dekolonisation. Die Besonderheit postkolonialer Perspektiven auf gegenwärtige Gesellschaft ist also der Blick auf das Zusammenspiel von Wissen und Macht. Dabei besteht teilweise die Gefahr, dass mit einem Fokus auf Kultur, Identitäten und Wissensproduktion deren Verknüpfung mit materiellen Bedingungen und den Wirkungsweisen des globalen Kapitalismus, außer Acht gelassen wird. Die Auseinandersetzungen auf der Ebene von Wissensproduktion greifen zu kurz, wenn nicht gleichzeitig Veränderungen der ‚harten Fakten‘ wie des Fortwirkens kolonialer Verhältnisse beispielsweise in den Institutionen der internationalen Beziehungen, der globalisierten Wirtschaft oder – wie derzeit wieder sehr deutlich zu sehen – im europäischen Migrationsregime mitgedacht und angestrebt werden [Link zu neokolonial].
[1] Die Ausführungen zu ‚postkolonial‘ basieren auf Aikins, Joshua Kwesi / Bendix, Daniel, 2015: Postkoloniale Kritik. Vom Finden und Überwinden kolonialer Spuren. In: ZAG – Antirassistische Zeitschrift Nr. 70, 13-14.
[2] Hall, Stuart, 1996: The West and the Rest: Discourse and Power. In: Hall, Stuart / Held, David / Hubert, Don / Thompson, Kenneth (Hg.): Modernity. An Introduction to Modern Societies. New York: Wiley-Blackwell, 185-227.