Deutschland wird oft international Anerkennung für die Aufarbeitung des Holocausts zuteil. Ein Blick auf einen entsprechenden Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte ist demgegenüber sehr ernüchternd. Die Aussage, die Aufarbeitung der Deutschen Kolonialgeschichte stecke noch in den Kinderschuhen, kann – wenn überhaupt –, nur sehr wohlwollend erfolgen. Wenn von Erinnerungskultur gesprochen in Deutschland wird, ist festzustellen, dass die Erinnerungen sehr selektiv ausfallen: Daher muss eher von eine Er-/Entinnerungskultur gesprochen werden, denn Erinnern und Entinnern geschehen oft simultan. Ein gutes Beispiel hierfür liefert der Völkermord an den Herero und Nama, den das deutsche Kaiserreich zwischen 1904 und 1908 im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ beging. Erst 2015 erkannte die deutsche Bundesregierung das Verbrechen als Völkermord an. Damit änderte die Bundesregierung ihre Bewertung der Gräueltaten deutscher Truppen in Namibia, bei denen rund 100.000 Menschen getötet worden waren. Bisher hatte die Bundesregierung der Tatbestand Völkermord zurückgewiesen, da dieser erst seit Inkrafttreten des UN Völkermordkonvention 1948 gegeben sei. Allerdings hatte der Bundestag kurze Zeit zuvor die Massaker an den Armeniern von 1915 und 1916 im Osmanischen Reich als Völkermord verurteilt und somit ihre Bewertung des Genozids an Herero und Nama neu formulieren müssen. Die Bundesregierung führte allerdings aus, dass allein aus der Verwendung des Völkermordbegriffs keine Rechtsfolgen für Deutschland entstünden.
Ein wiederkehrenden Moment in der deutschen Entinnerungskultur besteht darin, deutsche Kolonialgeschichte zu relativieren und zu externalisieren. Schließlich hätten die Franzosen und Engländer viel mehr „Platz an der Sonne“ (Kolonien) als Deutschland gehabt, und die Dimensionen der Kolonialherrschaft seien doch gar nicht vergleichbar, sagte der deutsche Außenminister 2016 [link: http://www.dw.com/de/steinmeier-kunst-kann-kolonialgeschichte-aufarbeiten/a-19518256]. Dabei wird gern vergessen, dass die Aufteilung des afrikanischen Kontinentes unter den Kolonialmächten 1884/85 auf die explizite Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in Berlin geplant wurde. Politisch wird der Fokus gerne schnell auf eine gemeinsamen Zukunft mit den jeweiligen ehemaligen Kolonien gelenkt. Die Diskussionen werden in Richtung eines Ausbaus der deutsch-tansanischen oder deutsch-namibischen Beziehungen – oder gar Freundschaften – geführt, sobald Vertreter*innen der ehemaligen Kolonien dazu ansetzen, über die gemeinsame (und grausame) Vergangenheit zu sprechen. Mit dieser Verdrängung geht einher, dass die Aufarbeitung erst auf massiven Druck geschieht, beispielsweise seitens der Vertreter*innen von Herero und Nama, die sich wiederholt an die Bundesregierung gewendet haben mit der Bitte um die Rückgabe der (leider nicht nur buchstäblichen) Leichen im Keller. In deutschen Kellern, wie beispielsweise denen der Charité (sowie in der Uni Freiburg, Uni Frankfurt, Uni Leipzig und dem Völkerkundemuseum Dresden usw.), befinden sich menschliche Überreste, die seit den 1900er Jahren zum Zwecke sogenannter Rassenforschung verwendet wurden. Diese Überreste wurden beispielsweise nach dem oben erwähnten Vernichtungskrieg konserviert und „für Forschungszwecke“ nach Deutschland gebracht. Die Zusammenhänge zwischen diesen Forschungen und die dem Holocaust zugrundeliegenden Ideologien sind eindeutig offengelegt. Warum dann die Aufarbeitung des Holocausts nicht mit der des Völkermords an den Herero und Nama einhergehen kann, bleibt erklärungsbedürftig.
Bis heute sind die wenigen Erinnerungsorte deutscher Kolonialgeschichte gleichzeitig Entinnerungsorte. Zwar wissen viele, dass es z.B. in Berlin ein Afrikanisches Viertel gibt, aber nur wenige warum. Kolonialverbrecher, die vielerorts Straßen mit ihren Namen schmücken, werden regelmäßig als „Großkaufmänner“ und „Afrikaforscher“ stilisiert. Obwohl diese Bezeichnungen die Komplizenschaft von Handel und Forschung im deutschen Kolonialismus offenlegen, verschwenden viele Passant*innen keine Gedanken an den Straßennamen und entinnern sich so jedes Mal der grausamen Taten, die diese Menschen in den ehemaligen Kolonien veranlasst haben. Diese Orte verherrlichen die Täter oder zelebrieren Eroberung, anstatt antikolonialen Widerstand und dessen Akteur*innen zu würdigen. Eine Geschichte, die kaum 100 Jahre alt ist, wird so zu einem Geschehen, das gefühlt sehr lange her ist, und scheinbar kein Relevanz mehr für die Gegenwart besitzt. Dieser gesamtgesellschaftliche Prozess der Ent-innerung postuliert, das Kolonialismus etwas Vergangenes und Externes ist, etwas, das (dr)außen (im Gegensatz zu innen), außerhalb (von uns selbst)und woanders (Frankreich und England) stattgefunden hat. So werden die eigenen, engen deutschen Verflechtungen mit dem Kolonialismus ausgeblendet.